NEU: Die schwedische Halbinsel der Zugvögel

Falsterbo

Sonntag, 9. Juli 2023

Von Sopot nach Danzig

Der letzte Tag begann mit zwei unerwarteten Herausforderungen: Wie öffne ich mein Fahrradschloss, dass vom Regen ganz eingerostet ist? Mit Motoröl, etwas anderes hatte der nächstbeste Laden nicht.
Und wie komme ich zurück zur Promenade? Ich suchte den schnellsten Schleichweg aus der Innenstadt und fand mich mehrfach in einem eingezäunten Hotelbereich wieder. Ah, sehr gut, die Leute wollen zum Strand, dann haltet mal eure Schlüsselkarte vors Tor, damit ich hinter euch durchkann. Na, macht doch! Wartet ihr noch auf jemanden? Wie lange wollt ihr da rumstehen? Boah, dann eben nicht.


Heute stehen nur noch 16 Kilometer auf dem Plan, und die Hälfte davon verläuft auf einem perfekten Weg durch den Küstenwald. Zur Stärkung gibts LODY GOFRY KAWA vor einer Villa im Bunker-Look.
Das sollte schnell gehen, oder?

Nun, es ging auch schnell, solange ich mich an das hielt, was Karte und Wegweiser sagten (die sich hier zur Abwechslung sogar mal einig waren). Irgendwann war ich mich aber nicht mehr mit den beiden einig, und zwar an diesem Kreisverkehr für Fahrräder (Mist, schon wieder aus Versehen in den Niederlanden gelandet!) und E-Scooter. (Die Dinger sind auch in Polen längst angekommen.) Ich sollte bereits hier die Küste verlassen und runter nach Danzig abbiegen.
Die Stadt, in der der Eiserne Vorhang begann und endete, zumindest in gewisser Weise.

Das habe ich nicht so ganz eingesehen. Immerhin kommt gleich die tragischste Stelle der gesamten Ostsee - und die Karte sagt, ich soll sie auslassen und wenn überhaupt später mit einem Schiff vom Stadtzentrum aus wieder hochfahren? Wie unpraktisch ist das denn? Ich bin doch schon fast da. Stur fuhr ich geradeaus weiter, links das Meer, rechts ein großes eingezäuntes Hafen- und Industriegelände mit Unmengen an Kränen. Ich kam an einem kleinen grünen Leuchtturm an der Mündung der Martwa Wisla (Tote Weichsel) raus, wo mir der Zaun des Hafengebiets den Weg abschnitt.

Dieser Stadtteil heißt Nowy Port (Neuer Hafen) und war einst ein polnisches Viertel mit einer polnischen Schule und Kirche. Das machte es den Nazis recht leicht, den ganzen Block abzuriegeln und zum Kriegsgefangenenlager zu erklären. Erst 1940 lösten sie es auf und brachten die wichtigsten polnischen Intellektuellen und Führungspersonen in Konzentrationslager.

Überall stehen zigtausend Leuchttürme herum, die mir aus dem Modellmuseum nur allzu bekannt vorkamen. Ich musste nicht lange rätseln, was es mit dieser Kugel auf den Turm links auf sich hat: Das ist ein Zeitmesser, eine sehr simple, aber laute Uhr für die Schiffe. Die kann im Prinzip nur zwei Uhrzeiten anzeigen: Zehn vor zwölf (dann wird die Kugel hochgezogen) und zwölf Uhr Mittags (dann wird mit fallengelassen, was einen Riesenkrach macht). Für die Matrosen war es offenbar besonders wichtig zu wissen, wann Mittag war. Vermutlich, weil sie dann Mittagspause machen konnten.

Na schön, zweiter Versuch: Über den Bahnsteig eines toten Bahnhofs holperte ich auf der anderen Seite um das Industriegebiet herum. Soo, hier müsste doch jetzt die Fähre über den Fluss ablegen. Komisch, überall Zäune, nirgendwo ein Schild, aber auf der Karte ist hier doch eine Fähre eingezeichnet, und auch Google hat die Stelle als Wassertram-Station markiert. Ich hatte jetzt nicht geschaut, wann die Schiffe abfahren - das ist doch bestimmt wie in Travemünde oder Warnemünde einfach ne Fähre über die Flussmündung, die hin- und herpendelt. Na gut, was sagt denn Google zur Station?
Keine Abfahrten verfügbar.
Auch die Angler hatten keine Ahnung, dass hier irgendwelche Schiffe ablegen sollen. Man empfahl mir, halb nach Danzig runterzufahren und dort in einen Bus zu steigen, der wiederum durch einen Tunnel fährt, wo ich dann auf der anderen Seite wieder hochkann. Hmpf. Das ist jetzt blöd. Am anderen Ufer erkannte ich schon die Säule des Mahnmals, so nah und doch so fern.
Als ich Stunden später in der Innenstadt ankam, entdeckte ich tatsächlich eine Haltestelle für Fähren, so richtig mit Schildern und Fahrplänen. Das letzte Schiff war aber längst weg, es handelt sich auch nicht um eine richtig regelmäßige Fähre, sondern eher um eine Art Ausflugsfahrt. Letzten Endes bin ich abends über die Brücken der Innenstand und die ganze Entfernung am anderen Ufer wieder hochgefahren, und dann wieder zurück zur Innenstadt. Das waren dann sehr viel mehr als 16 Kilometer, aber ich hatte die Zeit.

Nachdem mein vierter Versuch also erfolgreich war, betrat ich in der Abenddämmerung den dunkelsten Teil der Stadtgeschichte: Die Westerplatte. Ein paar brutalistische Betonbuchstaben machen unmissverständlich klar, dass ich hier richtig bin.
Der zweite Weltkrieg begann mit dem Angriff auf die Festung Westerplatte in Danzig, nachdem die Deutschen ein paar Angriffe polnischer Rebellen auf die Grenze gefaket haben. Dieser eine Satz ist alles, was ich über diesen Ort wusste. Mein Geschichtslehrer hielt damals (nicht ohne Grund) andere Details aus dieser Epoche für wichtiger. Doch 2023 könnte die Geschichte dieses Ortes kaum aktueller sein.
Ich wusste nicht mal, zu welchem Land Danzig damals gehörte oder was die Westerplatte überhaupt ist. In meinem Kopf war da, naja, eine graue Platte aus Stein am Wasser.
In Wahrheit ist die Platte ein düsterer Park, übersät mit bröckelnden Bunkerresten und kaputten Ziegelmauern. Manche Bunkerbrocken sehen aus, als würden sie nur noch von einem einzigen seidenen Faden (beziehungsweise einem seidenen Stahlträger) am Abstürzen gehindert. Betreten auf eigene Gefahr!? Das sieht mir eher aus nach Betreten allerstrengstens verboten. (Mein innerer Deutscher wird ohnmächtig.) Ach guck, da ist wieder einer dieser grauen Wachtürme - stammen die womöglich gar nicht aus dem Kalten Krieg, sondern aus der Zeit davor? Die Strandkörbe und Kurbäder aus dem 19. Jahrhundert sind verschwunden, nur wenige Menschen sitzen im Sand. Dafür benutzen überraschend viele den Park mit der finsteren Vergangenheit für ein Date...
Übrigens ist ausgerechnet Westerplatte der einzige deutsche Ortsname, den die Polen einfach so übernommen haben. Sonst haben sie immer zumindest einen Buchstaben hinzugefügt oder das Ł durchgestrichen.

Es gibt eine Frage, um die immer gestritten wird bei Regionen, deren Nationalität im Laufe der Zeit hin- und herpendelte. Im Grunde ist es die Frage, um die Krieg geführt wurde (oder zumindest wurde so getan, eigentlich geht es meistens bloß um Macht und Will haben!)
Wer war Erster?
Aus meiner Sicht eine total überbewertete Frage, die meistens zu überhaupt nichts führt und die gewaltsamen Konflikte auf diesem Planeten nicht löst, sondern anheizt. Entscheidend ist, was die Menschen, die jetzt da sind (oder maximal die, die bis vor ganz Kurzem da waren und unfreiwillig gingen) wollen, denn, wie Olaf Schubert es so schön formuliert hat: Finnland war auch mal belgisch. Aber nur so aus Interesse will ich der Frage für Danzig jetzt doch mal nachgehen.
Wer war zuerst da? Die Goten.
Ja, super. Das hilft natürlich total weiter. Da wird sich die Gotische Republik bestimmt freuen.
Nach den Goten kam wahrscheinlich ein Mix aus Skandinaviern, baltischen Prußen und slawischen Kaschuben, so richtig belegt ist das aber nicht. Hm. Letzten Endes haben sich die Slawen um das Jahr 1000 durchgesetzt, einem gemeinsamen Fürsten angeschlossen und ihre Stadt an der Weichselmündung befestigt. Aber waren sie deswegen auch zuerst da?
Besser lässt sich folgende Frage beantworten: Wann hat denn das Hin- und Hererobern zwischen Deutschland und Polen angefangen? Mit dem Deutschen Orden. Das war ursprünglich eine Spitalgemeinschaft, die der Papst quasi zu den Nachfolgern der Kreuzritter ernannte. Danach heilten sie zu Hause zwar immer noch Kranke, ritten aber auch nach Nordosten (das Heilige Land war ihnen zu heiß), um zu kolonisieren und dabei selbst den einen oder anderen Kranken oder Toten zu produzieren. Sie eroberten dermaßen viel, dass sie irgendwann alles vom Baltikum bis hier zum sogenannten Deutschordensstaat zusammenfassten. Das war der Ursprung von Preußen.
Um Danzig zu verteidigen, bauten sie an der Toten Weichsel eine erste Holzhütte, die nach und nach zur Festung Weichselmünde erweitert wurde. (Der Burgturm war übrigens auch mal ein Leuchtturm.) Tja, und seitdem pendelte das Pendel der Eroberung zwischen Deutschland und Polen, blieb aber auch immer mal wieder in der Mitte bei der einen oder anderen Form von Autonomie stehen. Möglicherweise ist das die Variante, die der Wahrheit am gerechtesten wird, denn manche Historiker vermuten: Die Goten stammen ursprünglich genau von hier, aus der Weichselmündung. Wer war zuerst da? Die Danziger/Gdańsker!

Trotzdem war es gerade eine Form der Autonomie, mit der die größte Tragödie der Stadt begann. Im Versailler Vertrag stand nämlich ein merkwürdiger Kompromiss: Danzig wird eine freie Stadt, aber mit ein bisschen polnischer Verwaltung drin, Polen darf seine eigene Post und ein Telefonnetz betreiben, und der Völkerbund hat die Aufsicht. Noch komplizierter wurde es, nachdem Polen Schwierigkeiten bei den Waffenlieferungen zur Verteidigung gegen die Sowjets hatte (siehe vorvorletzten Beitrag). Da setzte Polen beim Völkerbund durch, dass es ein Munitionslager in der Stadt bauen durfte. Jetzt gab es also ein Stück Polen in einer freien Stadt mit deutscher Bevölkerung, aber polnischer Verwaltung, in einem Streifen Polen, der wiederum von zwei großen Stücken Deutschland umgeben war. Hui.
Das Lager entstand auf der Halbinsel Westerplatte. Das war mal eine Insel und ein beliebtes Strandbad. Trotz ein paar militärischen Anlagen chillten Menschen beider Nationen friedlich in den Strandkörben, eingeteilt nicht in Deutsche und Polen, sondern in Damen, Herren und Familien. Es gab einen Kaisersteg, Restaurants, Kurbäder... klingt nach Ahlbeck.
Die Menschen konnten wunderbar entspannen. Weil sie nicht wussten, was hier eines Tages geschehen würde.

Der Völkerbund bestimmte: Polen durfte auf seinem Munitionslager keine Festungsmauer bauen, sondern nur Lagerhäuser wie dieses hier für die Munition. Und maximal 88 Soldaten durften sie bewachen. Die Danziger durften jederzeit inspizieren, ob sich Polen daran hielt.
Trotzdem waren die Stadtbewohner stinksauer und machten Stimmung gegen das Lager. Sie argumentierten mit Brandschutz und Pazifismus, aber oft versteckte sich hinter dieser Oberfläche reiner Hass auf Polen. Die 88 polnischen Soldaten trauten sich nur in Zivil in die Stadt, lieber blieben sie am Wasser, schliefen in ehemaligen Spa-Gebäuden, trieben Sport und legten einen Gemüsegarten an.
1933 kam dann in Danzig die NSDAP gleichzeitig mit Berlin an die Macht. Daraufhin wurde es erstmal ruhiger, Hitler ließ seine Truppen die antipolnischen Eskapaden zurückfahren, weil er einen auf friedlich machen und Sachen mit der polnischen Regierung aushandeln wollte, zum Beispiel eine extra-territoriale Straße und Schienen durch den polnischen Korridor, eine abgestimmte Außenpolitik und Polens Beitritt zum Anti-Kommunisten-Pakt. 1939 lehnte der polnische Außenminister Józef Beck höflich ab. Im selben Jahr titelte eine französische Zeitung: Sterben für Danzig? Mit anderen Worten: Meine Güte, gebt den Deutschen halt diese dämliche Stadt und gut is. Dann werden die ja wohl nicht noch mehr wollen. (Ähnlichkeiten mit gegenwärtigen Konflikten sind rein zufällig.)

Nun schürte die Nazi-Propaganda wieder Stimmung gegen Polen, die Angriffe in der Stadt wurden mehr, und Polen ließ polnische Familien aus der Stadt evakuieren. Der Völkerbund erkannte die Gefahr und lockerte die Regeln für das Munitionslager, jetzt lebten da 200 Soldaten und rüsteten auf. Die Anspannung stieg.
Am 25. August 1939 schaute die Schleswig-Holstein, eigentlich nur ein deutsches Schulschiff, auf einen Freundschaftsbesuch vorbei. Am 1. September war dann jede Freundschaft verschwunden. Kapitän Gustav Kleinkamp befahl um 4:30, auf die Mauern der Festung zu feuern.
Der frühe Vogel... entfacht den größten Krieg der Menschheitsgeschichte (Stand Juli 2023).

Die Mauer um das Depot war sofort im Eimer. Aber obwohl die Deutschen vom Fluss, vom Meer und ab dem 2. Tag auch aus der Luft schossen sowie den Wald in Brand steckten, schafften sie es einfach nicht rein. Was sie nicht bedacht hatten: Wer in einem Munitionslager sitzt, dem geht die Munition nicht so schnell aus. Das hatte ich gar nicht gewusst: Die ersten Polen, die angegriffen wurden, hatten durchgehalten.
Der Rest von Polen leider nicht. Am 7. September entschied Major Sucharski, es hätte keinen Sinn mehr, die Westerplatte zu verteidigen, wo doch Polen fast komplett überrollt war und nur bei Gdynia noch ein bisschen gekämpft wurde. Die Soldaten ergaben sich, die Verwundeten kamen ins Krankenhaus und wurden halbwegs anständig behandelt. Zwölf polnische Postarbeiter, die bei der Verteidigung geholfen hatten, wurden dagegen hingerichtet, obwohl sie eigentlich als Unterhändler aus der Festung rausgegangen waren. Die Deutschen staunten, dass die Westerplatte gar keine unterirdischen Gänge hatte und längst nicht so hochgerüstet war, wie ihre Propaganda behauptet hatte.
15 polnische Soldaten starben auf der Platte. (Auf der Deutschen Seite waren es 50.) Schon 1945 wurde ein erster Friedhof für sie angelegt, damals noch mit einem simplen Holzkreuz - das die Sowjets in einem Anfall akuter Geschmacklosigkeit durch einen Panzer ersetzten. Erst 2019 entdeckten Archäologen die echten Überreste der Gefallenen, woraufhin der Friedhof nochmal ein ganz neues Design bekam. Ein weißer Steinweg, unter dem Licht hervordringt, führt zwischen den Grundmauern des Depots hindurch, bis zu einem Kreis von 15 Kreuzen.
Wer so beerdigt wird, der muss etwas außergewöhnliches geleistet haben. Der weiße Kreis aus Licht zieht meinen Kopf demütig nach unten und lässt mich den Fahrradhelm abnehmen. Kurz habe ich sogar den Impuls, auf die Knie zu fallen, dann fällt mir ein, dass ich ja kein Bundeskanzler bin.
Europa hat viele Soldatenfriedhöfe, doch kein anderer hat eine solche Atmosphäre.

Das bekannteste Mahnmal steht aber ganz oben über dem Fluss: Jede Menge Gesichter, Schmerz, Stein und unleserliche Buchstaben, zu einer unförmigen Säule zusammenpresst und angestrahlt von Scheinwerfern. (Dass die Säule ein Bajonett darstellen soll, habe ich nicht erkannt und erst später gelesen.) Flaggen aller Völker flattern für den Frieden. Und auf den grauen Treppenstufen kuschelt ein Paar, das auf eine bessere Zukunft hofft.

Danzig ist recht fahrradfreundlich, rote Radwege folgen den Hauptstraßen zielstrebig ins Zentrum. Die Industrie wird nach und nach abgelöst von gläsernen Bürogebäuden.

Ein Gebäude springt besonders ins Auge. Ich trat durch die Glastür und staunte: Wie kann ein Haus nur aus Rost und Pflanzen bestehen und trotzdem so modern aussehen? Das Europäische Zentrum der Solidarność wurde einem Schiff nachempfunden. Dieses Schiff enthält Rolltreppen, pfeilschnelle Aufzüge, eine riesige Bibliothek und Stockwerke voller Büros, in denen Stiftungen die Menschenrechte auf der ganzen Welt unterstützen. Auf dem Dach konnte ich das Werftgebiet überblicken, der Blick auf die Altstadt dagegen war von gewöhnlichen Bauklötzen blockiert.
Allein dieses faszinierende Gebäude ist einen Besuch wert. Aber eigentlich war ich für die Ausstellung in der ersten Etage hier. Ich muss noch eine halbe Stunde warten bis zur nächsten Einlasswelle? Kein Problem, die Zeit kriege ich hier locker rum.

Schließlich aber betrat ich mit einem Audioguide in der Hand die Rolltreppe - und eine andere Zeit. Und zwar eine futuristische Zukunft, in der Audioguides von alleine anfangen zu labern, ohne dass man eine Nummer eintippt. Epische Musik ertönte, und eine deutscher Sprecher teaserte an, wie sich genau in diesem Stadtviertel die Zukunft Europas verändert hat.
"Als nächstes gehen wir weiter nach links in Raum B." Würde ich ja gern, aber da stehen zu viele Menschen.
"Und jetzt gehen wir rechts weiter in Raum B zu der Wand mit der roten Linie." Jaha, ist aber noch zu viel Gedränge. Fang doch schon mal an, den Text dazu abzuspielen!
"Nein. Geh jetzt endlich in Raum B, du Idiot!"
Diese Art von Audioguide hat auch ihre Nachteile.

Als die Sowjets Polen besetzten und verschoben, hatten sie bereits ihre eigene kommunistische Marionettenregierung zur Installation vorbereitet. Die Exilregierung der zweiten Republik in Großbritannien protestierte, wurde aber von den Alliierten schnell hängengelassen und nicht mehr anerkannt. Ein bis zweimal pro Jahrzehnt gab es eine Protestwelle gegen den Kommunismus, und ein bis zweimal pro Jahrzehnt wurden die Demonstranten brutal niedergeschossen oder fanden sich in Verhörräumen wie diesem hier wieder. Die Ostdeutschen haben bis kurz vor der Wende ja eigentlich nur ihren Protest vom 17. Juni auf die Beine gestellt und waren ansonsten recht brav, die Polen waren da etwas mutiger (und sind deswegen bis heute schlecht auf die Ostdeutschen zu sprechen).
In diese graue Zeit entlässt mich das hypermoderne Museum nun also völlig unvermittelt in Raum B. (Wer mehr über das Kriegsende und den Übergang erfahren will, kann das ähnlich aufwändige Weltkriegsmuseum besuchen.)

Gdańsk liebt Kräne. Egal ob die klassischen blauen Riesenkräne, mobile rote Kräne oder sogar historische Stadttor-Kräne. Mit so vielen Kränen lässt sich eine Menge zusammenbauen.
Die Kommunisten haben vieles nicht hinbekommen, aber immerhin war die Danziger Werft zu ihrer Zeit die fünftgrößte der Welt und ließ alle zwei Wochen ein frisches Schiff ins Wasser entschlüpfen (ich bin sicher, das ist der korrekte Fachterminus). Ein Erfolg, für den man natürlich auch mal die Kosten kürzen muss. Und wo kürzt es sich am besten? Natürlich nicht beim Luxus der Kapitalisten weisen sozialistischen Anführer, sondern bei den ausgebeuteten aufopferungsvollen Arbeitern.

Im Juli 1980 hatte die Kranführerin Anna Walentynowicz ein langes und kraniges Leben hinter sich, von dem sie einen großen Teil in ihrer Krankabine (im Bild hinten in der Mitte) verbracht hatte. In wenigen Tagen winkte die Rente. Wahrscheinlich rechnete sie nicht damit, kackdreist kurz vor dem Ruhestand gefeuert zu werden.
Und auf keinen Fall rechnete sie damit, dass ihre Entlassung halb Europa in die Freiheit entlassen sollte.
Annas Kündigung war der letzte Tropfen, dass das Dock zum Überlaufen brachte. Am Morgen des 14. August verabredeten sich vier respektierte Arbeiter, darunter ein Mann namens Lech Wałęsa, der später der Große Elektriker genannt werden sollte. Nur einer der vier war pünktlich. Gemeinsam zogen sie durch das Werftgebiet, das damals fast schon eine Stadt für sich war, mit eigenen Kindergärten und Geschäften. Von Tür zu Tür überzeugten sie die Arbeiter, zu streiken. Zwei Stunden später hatten sie einen ordentlichen Protestmarsch zusammenbekommen.

Weil sie keine Bühne hatten, stellte sich Wałęsa kurzerhand auf einen kleinen LKW (im Bild hinten links). Die Kommunisten spielten das Problem herunter, dann drohten sie, dann schmeichelten sie. Die Arbeiter streikten weiter. Ein Streikkomitee koordinierte alles ganz genau, damit es keinen Anlass für die Staatsmacht gab, Gewalt einzusetzen. Aber wie sollten sie die Öffentlichkeit auf sich aufmerksam machen? Ohne Social Media, mit nichts als Staatspresse und Staatsfernsehen, die natürlich kein Wort über dieses völlig unbedeutende Ärgernis verloren, war das nicht so einfach. Die Werftarbeiter griffen also zu einem sozialen Medium der eher einfach Art: Bretter. 21 Forderungen pinselten sie auf Holztafeln, unterschrieben sie genau hier und stellten sie an der Einfahrt zum Werftgebiet auf. Die Originale hängen heute im Museum und sind UNESCO-Welterbe.
Keine Forderung auf den Brettern wollte das kommunistische System generell abschaffen, aber es waren schon eher grundsätzliche Sachen darunter wie Meinungsfreiheit und Gewerkschaften, die unabhängig von der Partei sind.

Im ganzen Land erklärten Betriebe und Intellektuelle ihre Solidarität gegenüber den Werftarbeitern. Um das auch öffentlich zu zeigen, pinnten sie sich das Wort Solidarność an ihre Kleidung. Das Wort wurde so oft benutzt, bis irgendwer auf die Idee kam, doch einfach die ganze Gewerkschaft so nennen. (Vorher hatten die oppositionellen Gruppen und Gewerkschaften einen Haufen uneinheitlicher und etwas sperriger Namen.) Passend dazu gab es auch gleich ein Logo in verschnörkelter Schrift und den Farben der polnischen Flaggen. "Schauen Sie doch mal auf die Spiegel an der Decke", kommandierte der Audioguide in Raum C. Erst da entdeckte ich: Das Museum hat das Logo im extragroßen Maßstab mit Textwänden nachgestellt.

Schließlich knickte die Regierung unter Edward Gierek ein und handelte unter großem Jubel eine Vereinbarung aus. Die Solidarność wurde vor Gericht offiziell eingetragen als die erste unabhängige Gewerkschaft im ganzen Ostblock, die aber definitiv keine politische Partei ist und die Herrschaft der PZPR (Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei) anerkennt. Viele ihrer Forderungen gingen in Erfüllung. Sie durften sogar ein Denkmal für die Opfer der letzten Aufstände errichten: Drei riesige Betonsäulen mit Ankern dran. Sie überragen bis heute das Museum. Das ist, als hätte Honecker 1980 erlaubt, ein Denkmal für die ermordeten Demonstranten vom 17. Juni aufzustellen - also unvorstellbar, oder? Nicht in Polen!

Aber für keine der Seiten war das ein Happy End. Denn wenn man einmal eine unabhängige Gewerkschaft hat, dann stellt die natürlich immer wieder neue Forderungen. Und nicht nur die - die Bauern wollen plötzlich auch so was haben. Die Künstler wollen plötzlich nicht mehr zensiert werden. Und überhaupt wollten alle irgendwas.
Plötzlich befand sich die Partei in einer höchst unangenehmen Lage. Um ihre Allmacht zu retten, mussten sie der Opposition immer weiter entgegenkommen und dafür ihre Allmacht selbst Stück für Stück auseinanderschrauben. Die Sowjetunion drohte, Polen solle gefälligst seine antirevolutionären Kräfte in den Griff bekommen. Russische Panzer sammelten sich an den Grenzen - angeblich nur für eine Militärübung. Damit lieferten sie dem neuen Parteichef Wojciech Jaruzelski und seinen Genossen die perfekte Ausrede, mit der sie ihre Verbrechen nach der Wende rechtfertigen konnten - sie mussten ja schlimmeres verhindern, also einen Einmarsch der Sowjetunion.
Stattdessen marschierte Polen in sich selbst ein. Weil Selbsteinmarsch aber voll fürn Arsch klingt, nannten sie es stattdessen Kriegsrecht. Die Solidarność wurde verboten, weil sie angeblich einen Staatsstreich plante, die Anführer eingesperrt, Proteste niedergemäht, Chaos, Gewalt, Fernsehansprachen, brutale Musik. Achtung, verstörende Szenen!, warnt ein Schild vor dem Polizeibus, in dem ein Video aus dieser Zeit abgespielt wird.
Wieder mal ein gescheiterter Versuch, im Ostblock für Freiheit zu sorgen.
Oder?

Die Geschichte stand am Wendepunkt. (Genau hier setzt Polens erste Netflix-Serie 1983 ein, die einen alternativen Verlauf der Geschichte erzählt.)
Was wie ein weiteres tragisches Ende schien, erwies sich in Wirklichkeit als Anfang vom Ende des Kalten Kriegs. Die Solidarność musste nur noch wenige Jahre im Untergrund durchhalten und fleißig ihre illegalen Zeitschriften drucken, bald schon sollte sich das auszahlen. In Moskau kam Gorbatschow an die Macht und stellte klar, dass er nirgendwo einmarschieren würde und die Staaten im Osten schon selbst mit ihren Problemen fertigwerden mussten. Als die Gewerkschaft also zum zweiten Mal ans Tageslicht kam, musste die Regierung wieder verhandeln, und diesmal wirklich. So entstand der berühmte Runde Tisch, an dem sich Partei und Opposition in aller Ruhe auf Augenhöhe und (ganz wichtig) ohne hinterher irgendwen zu erschießen, Sachen aushandelten.
Auch Sachen, von denen sie hinterher wahrscheinlich selber überrascht waren. Auf einmal gab es teilweise freie Wahlen! Das bedeutet, das eine Parlament wird komplett frei gewählt und beim anderen Parlament werden den Kommunisten 65 Prozent der Sitze garantiert.
Selbstsicher dachte die PZPR, die mit freien Wahlen noch null Erfahrung hatte: Wir hatten doch bisher immer über 90 Prozent, da werden wir das locker schaukeln.
Taten sie nicht.

Die Solidarność wurde doch noch zur politischen Partei, Lech Wałęsa, seine unbekannten Kandidaten und natürlich sein ikonischer Schnauzbart erlangten einen Erdrutschsieg. Danach dauerte es nicht lange, bis aus dem Parlament eine nichtkommunistische Koalition hervorging, die die Verfassung zu einer echten Demokratie umschrieb, während die Kommunisten immer noch mit aufgerissenen Augen versuchten zu begreifen, was passiert war. Und das in ganz Osteuropa, denn inzwischen hatten sich auch die Nachbarländer mit der Freiheit infiziert.

All das Grauen und Glück des 20. Jahrhunderts nahm in Gdańsk seinen Anfang. Jetzt sollte ich aber auch mal nachschauen, wie die dazugehörige Stadt eigentlich aussieht.
Antwort: Sie sieht toll aus. Richtig einladend. Die Stadt hat immer noch etwas Norddeutsches, aber gleichzeitig etwas Osteuropäisches, Niederländisches (deswegen nennt man sie Klein-Amsterdam, dabei ist Gdańsk alles andere als klein) und Modernes an sich, eine ganz eigene Art von Pracht. Dass alles so funkelnagelneu aussieht, hat einen Grund: Nach dem Zweiten Weltkrieg war kaputt.
Aber Gdańsk ist auch von diesem Schutthaufen auferstanden, hat sämtliche Tragödien überlebt und hat seine komplette Altstadt wie im 17. Jahrhundert wieder aufgebaut - aber mit breiteren Straßen, damit der Stauraum ausreicht für all die Touristen, die das Glockenspiel am Rathaus fotografieren wollen. Und damit noch mehr Platz ist, sind die Straßen auch noch richtig lang. Nicht umsonst heißt der größte Platz Langer Markt.
Die Stadt ist vielleicht kein Original mehr, aber ein glänzendes Vorbild und ein optimales Reiseziel für alle, die Geschichte, Wasserparks und Kräuterlikör lieben – oder einfach ein bisschen Hoffnung in die Welt wiedergewinnen möchten.

Im Herzen der Altstadt verbirgt sich die Marienkirche. Unter das strahlend weiße Gewölbe passen insgesamt 25 000 Besucher. Ganz so viele waren an diesem Nachmittag dann doch nicht da. Ab 18 Uhr wurde ein Band hinter den Bänken zugezogen - ab jetzt wurde getrennt in knipsende Touris, die bitte hinten bleiben, und Gläubige, die zur nächsten Andacht kommen. In dieser riesigen Halle ist schließlich für beide Gruppen Platz, ohne dass sie einander in die Quere kommen müssen.
In einem Seitenschiff verbirgt sich die astronomische Uhr. Sieht fast aus wie in Rostock, oder? Ist aber nur ein Nachbau.

Die originale Uhr hat ebensowenig überlebt wie die originale Altstadt oder das originale Gewölbe. Ich wollte den Turm besteigen und zwängte mich durch düstere Zäune. Hier oben konnte ich deutlich erkennen: All die stylischen Rippen und Bögen, die man von unten bewundert, wurden aus Beton neu gegossen. (So viel Mühe haben die sich bei der Rostocker Petrikirche nicht gemacht.)

Es ist ein seltsamer Kirchturm, den ich da bestiegen habe. Zum einen, weil die Treppe nicht immer enger, sondern immer breiter wird. Je höher es geht, desto mehr Platz bietet das quadratische Treppenhaus. Sogar Wohnraum bietet der Turm, wenn auch nicht für Menschen. Ich bog gerade um eine Ecke, da starrte mich plötzlich  eine Taube zwischen den Ziegeln an. Misstrauisch beäugte sie meine Kamera und gurrte grimmig, als wollte ich ihre Eier klauen. Dabei war ich nur neugierig, denn ich hatte noch nie ein Taubennest gesehen. Damit das auch so blieb, trat die Taube den taktischen Rückzug in die Dunkelheit ihres Lochs an.

Ungewöhnlich ist aber auch, dass man gar nicht aus dem Turm selbst auf die Stadt guckt, sondern von einer Stahlplattform, die man zwischen die Turmdächer geschraubt hat. Irgendwie komisch, aber auf jeden Fall sieht man so mehr als aus einem schmalen Kirchturmfenster. Dieses Mehr besteht zwar hauptsächlich aus Dachziegeln, aber auch aus der Stadt.

Diese Altstadt ist umgeben von einer unglaublichen Menge an Stadttoren. In Richtung Westen stehen sogar bis zu drei Tore hintereinander, so viel Torheit bringt nicht mal das berühmte Ischtar-Tor von Babylon auf.
Auf der anderen Seite grenzt die Altstadt an den Fluss Motława, der ein Stück weiter in die Tote Weichel mündet. Auch dort: Tore, Tore, Tore, fast jede Straße hat ihr eigenes. Wenn ich da an Rostock denke, wo nur noch ein einziges Stadttor (und zwar das langweiligste) in Richtung Hafen führt.
Am berühmtesten ist natürlich das Krantor (wie gesagt, Danzig liebt Kräne), das gleichzeitig Waren hochziehen und Menschen unten reinlassen kann. Rein theoretisch. Gerade war es jedoch mit einer Baustelle verstopft.

Langsam brach die Nacht herein, und Gdańsk zeigte mir, dass es nicht nur Friedhöre stimmungsvoll beleuchten kann.
Wie sich herausstellte, sollte ich mehr von der Stadt bei Nacht sehen als am Tage. Das habe ich Flixbus zu verdanken. Mitten am Tag erhielt ich eine freundliche SMS, dass der Bus, für den ich einen Fahrradstellplatz gebucht hatte, überhaupt keinen Fahrradträger hat. Ich verbrachte die Nacht also auf der Westerplatte, in der Altstadt und natürlich am Hauptbahnhof, wo ich rätselte, wie ich wohl am besten heimkomme. Zwar war der Fahrkartenschalter die ganze Nacht besetzt, aber die Dame war nur bedingt hilfreich. ("Do you speak English?" - "NO!")
In derselben Stadt sollte ich jedoch erleben, dass die polnische Gastfreundschaft noch lange nicht tot ist. Auf dem Weg zur Westerplatte gab mein Reifen ein letztes Mal seinen Geist auf. Als ich das Rad gerade abgeschraubt hatte, tauchte plötzlich ein junger Mann auf, der kein Wort Englisch sprach, aber ohne zu zögern und schneller, als ich es je gekonnt hätte (zugegeben, das allein heißt noch nicht viel) alles in Ordnung brachte. Zwischendurch tauchte noch eine andere Frau auf und fragte nach einem bestimmten Werkzeug, sodass wir für kurze Zeit eine Art spontane Flashmob-Reparaturstation bildeten.

Etwas anderes konnte der Typ aber nicht reparieren: Meine Fahrradtasche. Endlich fand ich heraus, warum die ganze Zeit Sachen verschwanden. Ein kleiner, gemeiner Riss hatte sich immer weiter ausgebreitet. Nun war er auf einmal so lang, dass ich ihn nicht mehr übersehen konnte. Und er drohte, die Hälfte meines Gepäcks auf die Straße zu spucken. Einen Großteil der Nacht suchte ich also nach irgendeiner Art von Notfallgepäck. An einer Tankstelle entdeckte ich schließlich eine Rolle Müllbeutel, in die ich den Inhalt der Tasche stecken konnte.
Immerhin: Wer von solchen Problemen geplagt wird, kann sich die in Danzig hervorragend schöntrinken. Aus der Stadt stammt ein leckerer Kräuterlikör namens Danziger Goldwasser. Darin schwimmen Goldstückchen. Warum, weiß keiner wirklich.
  • Die Ribery-Theorie: Die Kaufleute wollten damit angeben, wie reich sie waren. Einfach, weil sie es konnten.
  • Die Eso-Theorie: Das Gold soll die heilende Wirkung der Kräuter im Likör stärken.
  • Die Öko-Theorie: Künstler malten mit Goldfarbe und reinigten ihre Pinsel hinterher in Alkohol. Damit sie den Alk nicht wegkippen mussten, mischten sie leckere Kräuter darunter und tranken die Mische. Sehr nachhaltig und künstlerisch-alternativ, das genaue Gegenteil der Ribery-Theorie.
  • Die Allomantie-Theorie: Die Nebelgeborenen von Danzig wollten auf Partys stets die Möglichkeit haben, eine vergangene Version ihrer selbst erscheinen zu lassen.
Vielleicht ist das hier ja ein Trost für alle Deutschen, die noch immer den Verlust dieser Gebiete betrauern und sich nicht mal damit zufriedengeben wollen, dass wir da jederzeit ohne Kontrolle einreisen und sogar wohnen dürfen: Wir haben vielleicht nicht mehr die Ländereien, aber immer noch die Leckereien. Rügenwalder Teewurst und Danziger Goldwasser werden heute in Deutschland produziert.

Morgens um fünf stieg ich dann in den Zug nach Stettin, wo ich mein Rad erstmal senkrecht aufhängen und mit einem Zahlenschloss sichern sollte, mit einem Code, den ich mir spontan ausdenken und merken musste. Sehe ich aus, als wäre ich nach der Nacht geistig imstande zu so was?

Samstag, 8. Juli 2023

Von Swarzewo nach Sopot

Quietschend riss mich der erste Zug des Tages aus dem Schlaf. Das ist nur passend, schließlich hat mich der letzte Zug des Tages gestern Nacht in den Schlaf gewiegt. Verschlafen rieb ich meine Augen. Die Stelle war eigentlich ganz angenehm, aber das waren zu viele wilde Nächte in Folge. Ich brauche jetzt dringend eine richtige Unterkunft.
Wo bin ich überhaupt? Der Nebel hatte alles eingehüllt. Polnischer Nebel drückt auf die Landschaft wie eine fette feuchte Decke und lässt die Sonne sehr, sehr, sehr merkwürdig aussehen.

Unwetterwarnung: Im Bereich der Danziger Bucht ist mit dem Kugelblitz aus Umbrella Academy 3 zu rechnen. Passen Sie auf sich auf. Besonders Autofahrer und Schwäne bitten wir um erhöhte Aufmerksamkeit, da der Blitz es auf sie speziell auf sie abgesehen zu haben scheint.

Ich futterte mein Frühstück am Bodden auf einem merkwürdigen Rastplatz namens Punkt widokowy Kaczy Winkel, der offenbar sowohl für LKW-Fahrer als auch für Radler gedacht ist. Das Dixi-Klo stinkt mörderisch, und der Nebel hat alles Holz durchnässt, sodass ich mich nirgendwo hinsetzen kann.


Aber gerade mal eine halbe Stunde später sieht die Welt ganz anders aus: Ich erreiche Puck, und der Himmel strahlt. Im 12. Jahrhundert marschierten dort die Kreuzritter ein und zeigten sich eher bürokratisch als kämpferisch, indem sie einen Fischmeister als Beamten einsetzen, der den kompletten Fischfang im polnischen Korridor kontrollieren sollte. Für die Pucker war das ganz gut, denn so bekamen sie für Jahrhunderte das Recht, mit Schleppnetzen bis auf die offene Ostsee zu schippern. Als der polnische König zwischendurch die Stadt übernahm, übernahm er diese Rechte und erweiterte sie sogar, weil die Pucker so tapfer gegen die Schweden gekämpft hatten.
Aber wie ich ja gestern gelernt habe, bekam erst im Jahre 1918 die zweite polnische Republik endgültig diese Küste. Puck wurde Polens erster Seehafen, die Blaue Armee zelebrierte ganz feierlich Polens Vermählung mit dem Meer, und diese Feier wird bis heute wiederholt in der Hoffnung, dass das Meer irgendwann sogar "Ja, ich will" antwortet. Auf Deutsch hieß der Ort Putzig - endlich mal ein süßer deutscher Name, für den ich mir nicht an den Kopf fassen muss. Inzwischen ist der Hafen zwar nicht mehr wichtig, aber egal, die kurze Bedeutung reicht der Stadt, um mächtig stolz zu sein und sich ordentlich herauszuputzen, mit Flaggen, modernen Kunstwerken und stylischen Bodenplatten.
Und so langsam merke ich: Jetzt bin ich wirklich weit nach Osten gefahren. Es ist schwer in Worte zu fassen, aber diese Häuser sehen nicht mehr nach Norddeutschland aus, sondern irgendwie ein bisschen fremdartiger.

Das Hafenstädtchen hat auch seine eigene Steilküste.
Jetzt ist es wieder warm, da kann ich ja meine kurze Hose anziehen... komisch, wo ist die hin? Die war doch gestern noch da?

Während Deutschland eher höflich Rücksicht macht Wege breit auf den Asphalt pinselt, fordert Polen (gegebenenfalls sogar für seine Katzen) in weißen Großbuchstaben: ZWOLNIJ ! (MACH PLATZ!)

Kurz vor Rzucewo durfte ich dann wieder zwischen Wald und Wasser durchfahren. Das Dorf hat ein wehrhaftes Schlosshotel mit spitzen Zinnen, eine große Aussichtsplattform auf einem Hügel und ein Steinzeitdorf, in dem aber alle Hütten verschlossen, verrammelt und nur auf Polnisch beschriftet waren. Dementsprechend habe ich nicht viel darüber gelernt, wie die Slawen hier in grauer Vorzeit hausten.

Stattdessen haben ein paar polnische Spaziergänger gelernt, wie seltsam die Deutschen doch sind. Und zwar von mir. Aus folgendem Grund:
Als ich gerade durch das Steinzeitdorf rumpelte, gab der Flicken wieder nach und mein Schlauch verlor seine letzte Luft. Kein Problem, ich hatte ja jetzt Ersatz. Nur: Gerade eben war ich anscheinend durch irgendwelche Tierexremente gefahren, die jetzt an meinem Mantel klebten (also am Mantel vom Vorderrad, zum Glück nicht an meiner Kleidung). Wie soll ich das reparieren, ohne mich einzusauen?
Und so kam es, dass ich zum ersten Mal auf einer Radtour gemeinsam mit meinem Vorderrad baden ging. Ohne Zweifel ein merkwürdiger Anblick. Im flachen Wasser trieb ein dichter Algenteppich. Einige Algen verfingen sich in meinen Speichen und unternahmen so eine unerwartete Reise nach Danzig und Deutschland.

Soo, das hat gedauert, jetzt starte ich aber durch.
Oder auch nicht. Die nächste Tafel erklärt mir auf Polnisch und Englisch, welche Sehenswürdigkeiten das Seebad Rewa zu bieten hat. Und die klangen beide so verlockend, dass ich sie mir angeschaut habe, obwohl die Radroute eigentlich gar nicht durch Rewa ging.
Da wäre einerseits der Cypel Rewski (der Rewa-Zipfel, ich liebe Polnisch). Das ist im Prinzip eine superlange Zunge aus Sand. Auf den ersten Metern wachsen noch Pflanzen, und Bodenplatten sowie ein Kreuz erinnern an verunglückte Matrosen. Kurz darauf verschwindet das letzte Grasbüschel und es bleibt nichts weiter als ein zwanzig Meter breiter Streifen total zerlatschter Strandsand mit Algen an den Rändern. Dieser Streifen trennt das warme süße Wasser der Putziger Bucht (der Bodden, an dem ich bisher langgefahren bin) vom kühlen salzigen Wasser der Danziger Bucht.

Der Ort ist wahnsinnig beliebt bei Wassersportlern und Strandspaziergängern. Wann kann man denn schon auf dem Strand ins Meer reinspazieren? Wie weit genau, das hängt wahrscheinlich auch von Wind, Wetter und Wasserstand ab. Und davon, wie sehr man seine Füße nassmachen will. Manche Spaziergänger waren in der Hinsicht sehr bereit und schon weit in die Bucht hinausspaziert. Aus der Ferne schien es, als wären sie Jesus auf dem See Genezareth (oder, wie man in Polen vermutlich sagt, Jezioro Genęczjsaredz). Irgendwann taucht der Sandstreifen nämlich ins Wasser ein und schlängelt sich heimlich unter ein paar wenigen Zentimetern Wasser weiter.
Ich bin bloß ein paar Meter in diese nasse Zone vorgedrungen. Nicht aus Sicherheitsgründen: Auch wenn das Ganze etwas von einer Wattwanderung hat, hier gibt es keine Gezeiten, die mich töten können, und auch sonst sah das nicht besonders gefährlich aus. Nur schien es, als wäre solch eine Wasserwanderung ein Halbtagesprojekt, und dafür hatte ich nicht die Zeit.
Wie weit mag es wohl noch rausgehen? Laut dem Schild einen Kilometer. Die Kartenapps dagegen sind von diesem Zipfel komplett verwirrt und zeigen an, dass am Cypel Rewski mitten im Wasser ein Radweg beginnt und bis kurz vor die Halbinsel Hel führt, um dort plötzlich wieder abzubrechen.

Die andere Sehenswürdigkeit war die Steilküste von Mechelinki. Staubige Straßen mit verfallenen Häusern führen hinauf, und in ein paar Sandstufen gehts wieder zum Strand abwärts. Ganz nett, hätte ich notfalls aber auch weglassen können.

Wow, was für ein großzügiger Radweg! Und da vorne bin ich dann auch schon am Ziel der Reise. Also, mehr oder weniger. Zumindest bin ich schon mal im richtigen Ballungsraum. Rewa war nur der Anfang - die nächsten Stadtteile scheinen alle mit R zu beginnen und mit A zu enden.

Der erste Bereich des Ballungsgebiets sieht eigentlich ganz nett aus. Klar, viel Verkehr, aber auch viel Grün, Radwege, Bürgersteige, Kreisverkehre und freundliche Vorstadthäuser. Damit das alles hinpasst, sind die Straßen superduperbreit. Schließlich sind wir hier nicht auf Hel.
In Rumia bin ich in den Vorort Reda abgebogen. Dort befindet sich nicht der größte, aber vermutlich der beste Wasserpark Polens mit einer irren Innovation. Ein Wasserrutschen-Hersteller und ein Riesenrad-Hersteller haben sich zusammengetan und ein Knäuel Rutschröhren in ein Riesenrad gesteckt, das sich die ganze Zeit dreht. Wer da einmal reinrutscht, verliert jeden Überblick, wo oben und unten ist. Ich pendelte unkontrolliert herum und hatte das Gefühl, permanent bergauf zu rutschen. Weil das, wo ich hinrutschte, vor wenigen Sekunden ja auch wirklich bergauf war.

Leider sind nicht alle Vororte so einladend. Hinter Rumia folgt ein grässlich-graues Gewirr aus Gleisen, Brücken und Wohnblocks, garniert mit unübersichtlichen Ampeln und Bahnübergängen.

Was das Industriegebiet angeht, hatte mich der Reiseführer vorgewarnt - genau deswegen überspringen viele diesen Teil mit der Fähre ab Hel (wodurch sie aber auch das putzige Puck, den Cypel Rewski und die Riesenradrutsche verpassen - nein danke). Was mich aber überrascht hat: Das Zentrum der Stadt, zu der dieses ganze Gekröse gehört, sieht auch nicht viel besser aus. Damit ich gar nicht erst nach Gdynia reinkomme, war der Zugang gut versteckt, der einzige Weg hinein führte durch die Unterführung des Hauptbahnhofs. Der Bahnhofsvorplatz erinnerte mich frappierend an das tschechische Hradec Kralové, Grau in Grau in Grau.
Und genau wie in Hradec setzt auch diese Stadt auf Elektro-Busse im Nahverkehr. In Gdynia können die sich jedoch auch ohne ein Spinnennetz an Oberleitungen fortbewegen. Dazu fahren sie einen Arm aus und laden sich an blauen Masten auf, die oft den einzigen Farbtupfer in der brutalistischen Ödnis darstellen.

Hat der letzte Weltkrieg hier besonders hart zugeschlagen oder waren die Architekten ganz einfach depressiv? Eine Ursache war vermutlich ganz einfach, dass Gdynia zu schnell wachsen musste. Polen merkte nämlich bald, dass Puck für einen richtigen Überseehafen zu klein war. Ein größerer Industriehafen musste her, mit Werft, und dazu möglichst viele Häuser für möglichst viele Hafenarbeiter! 1920 lebten hier gerade mal tausend Menschen. Zehn Jahre später waren es 125 000, und Gdynia hatte die freie Stadt Danzig überholt, was die Anzahl der Schiffsladungen angeht.
Der deutsche Name der Stadt war eigentlich Gdingen, aber den Nazis klang sogar das zu polnisch (da folgt ein D auf ein G, höchst verdächtig), weshalb sie die Stadt nach ihrer Eroberung in Gotenhafen umbenannten.
Im Sozialismus ereignete sich hier der wahrscheinlich östlichste Fluchtversuch aus der DDR. Eine Familie hatte sich einen superkomplizierten Plan überlegt, wie sie verschiedene Visa, Genehmigungen und Einladungen kombiniert, um ganz legal aus dem Hafen zu lossegeln und dann, upsi, wegen eines leider, leider plötzlich auftretenden technischen Problems Bornholm anzusteuern. Leider wurden die Hafenbeamten misstrauisch und riefen zur Sicherheit nochmal bei den deutschen Genossen an. Am nächsten Tag kehrten die Flüchtlinge in ihre Land zurück, und zwar in Gefängniswagen.
Mittelpunkt von Gdynia ist der Skwer Kósciuszki. Dieser Platz ist 600 Meter lang und geht direkt in die Mole über. Man sollte also meinen, dass er die Tristesse der Stadt etwas auflockert. Zu diesem Zweck hat man ihn sogar dekoriert mit einer abstrakten Skulptur (grau) und einem Springbrunnen (grau). Selbst die modernen Hoteltürme enthalten mehr grau als Glas.

Nichts wie weg hier! Kaum fuhr ich aus der Stadt raus, wurde es wieder grüner. Sage und schreibe 600 Apfelbäume wurden hier gepflanzt. Sie sollen den Garten Eden symbolisieren. Wenn alle Polen davon probiert haben, würde das auf jeden Fall die Abwesenheit von FKK-Stränden erklären.

Und es wird noch grüner. Ein steiler Wald erstreckt sich an der Küste und gibt sein Bestes, der grauen Stadt etwas entgegenzusetzen. Mit Erfolg! Da macht es mir auch nichts aus, ein bisschen bergauf zu radeln.

Ein kurzer Blick über die nächsten Stadtteile: Nee, so richtig ist es noch nicht besser geworden. Ich tauche lieber wieder ab ins Holz - diesmal abwärts. Zwischen den Bäumen und unter den Bäumen schoss ich in Orłowo aus dem Grün und war wieder guter Dinge.

Am Rande des Waldes ragt eine Steilküste 50 Meter über der Bucht auf, die konnte ich aber nur mit etwas Abstand von unten bewundern.

Die nächste Grünanlage war etwas flacher und geradliniger, die Schluchten der kleinen Flüsschen werden überbrückt. Am Ende dieses Parks stehen die attraktivsten Fahrradständer Polens neben einer absolut genialen Therme.

Damit wäre ich in Sopot, der zweiten Stadt der Trójmiasto (Dreistadt). Wobei das eine seltsame Zählweise ist. Ja, Sopot ist im Prinzip die drittgrößte Stadt des Ballungsraums, aber als ich so durchfuhr, erschien sie mir eher wie ein sehr, sehr großes Strandhotel, das zwischen die Metropole Gdańsk und ihren zweieiigen Zwilling Gdynia geschoben wurde. Aber immerhin ein wirklich prächtiges Hotel. Allein der Springbrunnen ist doppelt so groß wie das Kinderbecken in der Schwimmhalle Gehlsdorf (es geht doch nichts über einen anschaulichen Vergleich, mit dem jeder etwas anfangen kann).
Den ganzen Kurbetrieb hat ein gewisser Jan Jerzy Haffner begründet. Er stammte ausgerechnet aus dem entgegengesetzten ehemaligen Teil Deutschlands: Elsass. In Sopot gefiel es ihm so gut, dass er hier einheiratete und Parks und Bäder anlegte, die seine Nachkommen weiterbetrieben und irgendwann an den Staat verkauften.

Der Strand ist über und über bedeckt mit weißen, zusammengebundenen Sonnenschirmen, was ihn ein bisschen so aussehen lässt, als würde der Ku-Klux-Klan hier seinen alljährlichen Sommerurlaub verbringen.
Dazwischen ragt eine der größten Seebrücken Europas ins Meer. Wie es da wohl... warum sind da Drehkreuze?
Antwort: Diese Seebrücke kostet Eintritt. Sie ist nicht die erste, irgendwo in Polen gab es schon mal eine kostenpflichtige (habe vergessen, wo), aber da durfte man zumindest abends ab um neun kostenlos drauf, wenn die Kassenhäuschen dichtmachten.
Hier dagegen leuchten die Drehkreuze die ganze Nacht über tiefrot, bis man ihnen ein passendes Kärtchen präsentiert. Wächter in Warnwesten achten darauf, dass niemand drüberklettert. Um 22 Uhr gilt gerade mal ein reduzierter Nachtpreis, wie gnädig. Damit hat Sopot echt den Vogel abgeschossen.

Nicht alle Häuser kommen mit dem Hitzesommer gut zurecht. Das Krzywy Domek (Schiefe Haus) ist anscheinend halb geschmolzen und darüber todunglücklich.
Nee, Spaß beiseite, zwei Künstler haben das Haus 1993 mit Absicht so entworfen. Es ist vermutlich das, was in Polen einem Hundertwasserhaus am nächsten kommt. Was sich wohl darin verbirgt? Ach so, bloß eine kleine Shoppingpassage, deren Geschäfte bereits schließen und deren Wände schon nach wenigen Metern vergessen, schief zu sein.


Irgendwie war mir nicht danach, noch einmal wie auf Hel einzelne Campingplätze abzuklappern. Stattdessen schaute ich unterwegs einfach mal auf booking.com, was es in Sopot so spontan gibt. Und siehe da, ein Platz im Hostel ist für läppische 20 Euro zu haben. Rein da! Die Unterkunft verbirgt sich unauffällig im Erdgeschoss einer Stadtvilla: Einfach ein paar Räume mit Doppelstockbetten vollstellen, Küche, Bäder, fertig. Ein idealer Ort, um Kontakte mit Reisenden zu knüpfen, die aus den unterschiedlichsten Gründen sparsam unterwegs waren. Manche sogar aus Polen, die meisten aber aus allen Ecken Europas.